November 1918. Ausnahmezustand. In nur einer Woche entfesselt sich in Kiel eine Revolution, die ganz Deutschland mitreißt. 100 Jahre später wirkt sich der Kieler Matrosenaufstand noch immer auf Politik und Gesellschaft aus. Von Aufgestanden bis Abgestraft — eine Momentaufnahme.
Angeschaut
Krieg, schlechte Versorgung und fehlende Mitbestimmung. 1918 waren die Voraussetzungen für eine Revolution gegeben. Wäre 2018 ein Matrosenaufstand 2.0 denkbar?
Aufgestanden
Der Matrosenaufstand gilt als Kiels großer Moment der Weltgeschichte. Warum meuterten die Matrosen eigentlich und was hat das mit der Novemberrevolution zu tun? Der Aufstand im Schnelldurchlauf.
Die Zeit vor dem Matrosenaufstand ist die Zeit des Aufbruchs der Arbeiterklasse. Der Erste Weltkrieg (1914 bis 1918) hat nahezu ganz Europa und die Welt erfasst – ein Brandbeschleuniger für eine Entwicklung, die schon vorher eingesetzt hat und Errungenschaften mit sich brachte. Dazu gehören das allgemeine Wahlrecht und die Freiheit außer Dienst. Sie haben bis heute Einfluss auf unser gesellschaftliches Zusammenleben.
Wie ist die gesellschaftliche Situation in Deutschland 1918?
Damals gibt es zwei Grundprobleme:
- Die schlechte Versorgungslage. Schon 1916 kommt es zu großen Hungerunruhen in deutschen Großstädten.
- Der Wunsch, dass der Krieg endlich enden soll.
Im Herbst 1918 wird der Krieg von der deutschen Militärführung als verloren erklärt. Auf einmal ist überall von Frieden die Rede. Die Deutschen beziehen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das öffentlich in den deutschen Tageszeitungen debattiert wird. Der Frieden erscheint den Menschen greifbar.
Weshalb will die Marine noch einmal auslaufen?
In Wilhelmshaven beschließt die Seekriegsleitung einen Flottenplan: Eine letzte Schlacht soll dazu dienen, politisches Gewicht für Verhandlungen in die Waagschale zu werfen. Der gewaltige Flottenapparat verschlingt Unsummen an Geldern, hat aber zum Kriegsgeschehen kaum etwas beigetragen.
Die Deutsche Marine will zeigen, dass sich auch in der Nachkriegszeit eine Flotte lohnt. Die Matrosen misstrauen seit dem Ersten Weltkrieg aber der Seekriegsleitung. Aus Sicht der Matrosen wollen die Offiziere ihre Ehre und ihre Haut über den Krieg retten, die Bemühungen der Regierung torpedieren, sie diskreditieren, die Reformen zurückdrehen. Dem wollen sich die Matrosen verweigern. Sie wollen nicht verheizt werden, den Frieden nicht gefährden.
Aufgeführt
Robert Habeck hat 2008 mit seiner Frau Andrea Paluch ein Theaterstück zum Kieler Matrosenaufstand geschrieben. Jetzt ist es wieder zu sehen. Warum die Ereignisse von 1918 heute noch von Bedeutung sind.
Welche Bedeutung das Stück für den Schriftsteller Robert Habeck hat, erzählt er in einem Telefoninterview.
"Durch alle gesellschaftlichen Schichten und Generationen."
Ein Theaterstück zum Matrosenaufstand in Kiel zu inszenieren, wo die Marinegeschichte im Stadtbild noch recht präsent ist, reizte den Regisseur Michael Uhl schon bei der Uraufführung 2008. Jetzt kehrt er zurück zum Theater Kiel, um dieses Stück zum 100. Jahrestags des Kieler Matrosenaufstands erneut auf die Bühne zu bringen. Mit uns hat er darüber gesprochen, welche Bedeutung die Geschichte heute noch hat und was er für die Neuauflage von „Neunzehnachtzehn“ Besonderes plant.
Wieso sollte ein junger Mensch sich dieses Stück anschauen?
Es war damals so, wie es eben ist im Krieg: Man schnappt sich die Jugend. 1918, das war vor allem die Jugend, die sagte: Nein. Das ging natürlich durch alle gesellschaftlichen Schichten und Generationen. Aber diejenigen, die dann auch handeln und die revolutionäre Masse bilden, diese Energie, die hat viel mit Jugend zu tun. Und mit Fragen wie: In welcher Gesellschaft möchte ich leben? Auf welchen Rahmenbedingungen fußt mein Leben? Wo ist meine Grenze, wo ich für mich sage ‚Nee, das geht nicht‘? Und mit welcher Konsequenz tue ich das? Da merkt man, wie nah man an solchen Kernfragen dran ist.
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Wie gehen Sie bei der Inszenierung an einem Ort vor, der so eng mit der Geschichte verbunden ist?
Ich finde, es ist eine Steilvorlage, das in der Stadt zu tun, die geschichtlich und gesellschaftlich davon geprägt ist. Das macht einfach einen Unterschied, ob man sowas in Kiel oder irgendwo anders macht.
Und welche Rolle spielt die Stadt Kiel dabei?
Die Kieler Ereignisse kann man nicht einfach nur so betrachten, ohne zu wissen, was es bedeutet hat für die Matrosen, fünf Jahre lang auf diesen Großkampfschiffen mehr oder weniger eingesperrt gewesen zu sein, während ihre Vorgesetzten munter an Land ein völlig anderes Leben führten. Wenn man diese Unrechtsvorspannung nicht erzählt – von Kriegsdarben, Familien, die Zuhause hungern, und all diesen Dingen – versteht man auch nicht wirklich, warum es Ende Oktober, Anfang November knallte.
WhatsApp 1918
Doch nicht nur die politische Mitbestimmung war 1918 stark eingeschränkt, auch die Kommunikation wurde streng überwacht. In den 14 Kieler Punkten forderten Marineangehörige und Arbeiter deshalb unter anderem die Aufhebung der Briefzensur sowie vollständige Rede- und Pressefreiheit, um den öffentlichen Austausch zu fördern und sich besser vernetzen zu können. Wäre der Matrosenaufstand anders abgelaufen, wenn moderne Kommunikationsmittel wie WhatsApp damals schon auf dem Markt gewesen wären?
Abgelegt
Kiel und Marine – seit jeher stark verbunden. Doch der Alltag der Soldaten heute unterscheidet sich stark vom Leben der Matrosen damals. Ein Besuch an Bord des Minensuchbootes „Siegburg“.
8.10 Uhr. Ende Juni sind frühmorgens schon 26 Grad Celsius. Strahlend blauer Himmel – Meteorologen zeichnen hinterher über 16 Sonnenstunden an diesem Donnerstag auf. An der Hauptwache des Marinekommandos Kiel wartet Korvettenkapitän Bastian Fischborn. Er lässt Besucher keine Sekunde aus den Augen. Militärischer Hochsicherheitsbereich. Ein Teil der Marineboote legt hier an, wartet auf Weiterfahrt oder Überholung. Der Korvettenkapitän ist 40 Jahre alt, trägt ein Schiffchen auf dem Kopf und ein hellblaues Hemd. Vor dem blauen Himmel im Hintergrund wirkt es fast wie ein Tarnhemd.
Bastian Fischborn ist vom Typ eher glattrasierter Dauerläufer – weniger ein rauschebärtiger Käpt’n Iglo. Vor dem Betreten des Minensuchbootes „Siegburg“ dreht sich Fischborn Richtung Heck und grüßt die von hier aus nicht sichtbare schwarzrotgoldene Flagge. „Das sind maritime Traditionen, die finden Sie überall auf der Welt.“ Bevor Fischborn Presseoffizier des Marinekommandos in Kiel wurde, befuhr er selbst jahrelang die Meere.
An Bord wird Bastian Fischborn als erstes von Kapitänleutnant Caroline Wegener in Empfang genommen. Die 28-Jährige ist wachhabende Offizierin, verantwortet den Funkverkehr, ist präsent auf der Brücke. Ursprünglich wollte die Thüringerin nur die Zeit bis zu ihrem Studium überbrücken. „Aber ich fand es so cool“, sagt sie voller Begeisterung und zieht das ’so‘ in die Länge. Das Erlebnis, mit dem Segelschulschiff „Gorch Fock“ zu fahren und die Kameradschaft.
Dann studierte sie an der Bundeswehr-Universität Staats- und Sozialwissenschaften. „Wir tragen die Entscheidungen, die die Politik macht.“ Keine Widerrede – aber auch kein blinder Gehorsam. „Wir haben einen Auftrag.“ Und die Aufträge seien mitunter schwierig.
Auslandseinsätze sind kein Vergnügen
Kaum war Wegener einige Wochen bei der Bundeswehr, absolvierte sie ihren ersten Auslandseinsatz. Spricht sie von den Bildern, die sie dort sah, guckt sie nicht mehr fröhlich, sondern stumm an einem vorbei aufs offene Meer: „Wir sind halt nicht das Aida-Clubschiff.“ Mit einer Frau als Chef haben laut Wegener die 45 Mann an Bord wenig Probleme. „Ich fahre eine klare Linie und sie schätzen meine Kompetenz.“
Eine Stunde nach dem Auslaufen in Kiel-Wik ist die „Siegburg“ auf offener See. In weiter Ferne schieben Frachter ihre Container über das Wasser, kleinere Segler schippern vorbei. Die Ostsee ist an diesem fast windstillen Morgen glatt, nur der Bug spaltet das Meer. Das Wasser ist türkisfarben und klar.
9.35 Uhr. „MAYDAY. TWO MISSING PERSONS“, krächzt es aus den Lautsprechern. Wegener, die eben noch in der Mitte der Brücke stand, springt nach rechts zum Handsprechgerät, notiert mit einem Marker die vermutete Position auf der Glasscheibe. „Zu weit weg, das müssen Andere übernehmen.“ 18 Knoten, das sind rund 36 Stundenkilometer, fährt die „Siegburg“ im Schnitt. Damit wäre das Schiff nicht schnell genug an der Unfallstelle.
Auf der linken Seite der Brücke sitzt Oberleutnant zur See Selim Ergün und hält Kurs. Der 25-Jährige hat gerade sein Studium abgeschlossen, war wie Wegener an der Marineschule Mürwik und anschließend auf der „Gorch Fock“. „Es ist ein absolut vielfältiger Beruf und ich habe mit Menschen zu tun.“ Der gebürtige Göttinger spricht leise, fast schüchtern. So schön seine Arbeit sei, einen Nachteil habe sie auch: Lange Abwesenheit von Frau und Kind, Versetzungen zwischen Konstanz am Bodensee und Schleswig sind jederzeit möglich. „Trotzdem will ich meinen Teil dazu beitragen, die Welt sicherer zu machen.“ Denn mit ihrem Eid schwören die Soldaten:
Der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Und das schließt, ergänzt Korvettenkapitän Fischborn, auch den Einsatz des eigenen Lebens mit ein.
Am Nachmittag fährt die „Siegburg“ dem Krieger- und Marinedenkmal in Laboe vorbei. Wegener kommt von der Brücke und stellt sich neben Fischborn. Ein Pfeifen ertönt. Sie heben die rechte Hand an die Schläfe zum militärischen Gruß. Dort wird aller auf See Gebliebenen gedacht, egal welcher Nationalität, ob im Krieg oder durch ein Unglück.
„Die Lebenswirklichkeit der heutigen Matrosen hat nichts mehr mit den jämmerlichen Zuständen des Jahres 1918 zu tun“, erklärt Fischborn. Ein Matrosenaufstand sei 2018 kaum vorstellbar. Denn die Soldaten verstehen sich als „Staatsbürger in Uniform“. Das mag mehr als ein gewöhnlicher Job sein. Denn sie verteidigen heute, was Matrosen damals erstritten haben: eine freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Marine-Quiz
Wo befindet sich die Marine in Kiel? Wieviele Soldaten arbeiten in der Landeshauptstadt? Und nach wem ist der Marinehafen benannt? Die Antworten erfahrt Ihr in unserem Quiz.
Abgestraft
Auch wenn eine Meuterei heute unwahrscheinlich erscheint, ist die Marine auf solche Fälle vorbereitet. Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages und Mitglied der SPD, erklärt, wie die Bundeswehr mit Befehlsverweigerung umgeht.
1918 meuterten die Matrosen, weil sie in einem verlorenen Krieg nicht sinnlos als Kanonenfutter enden wollten. Wann dürfen Soldaten im Jahr 2018 ihr Gehorsam verweigern?
Wenn ein Befehl die Menschenwürde verletzt oder wenn durch das Befolgen eine schwere Straftat begangen würde, ist Gehorsamsverweigerung nicht nur vertretbar, sondern zwingend geboten. Auch das gehört zur Inneren Führung. Jeder Soldat muss selbst einen Kompass dafür haben, was gut ist und was böse, richtig und falsch.
Dennoch gibt es Strafen für Befehlsverweigerung und Meuterei. Was erwartet die Soldaten?
Die Freiheitsstrafen bei erwiesener Meuterei liegen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren. In schweren Fällen, wenn die Meuterei zur Gefahr für die Sicherheit wird oder wenn Leib und Leben bedroht werden, müssen die Rädelsführer mit einer Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren rechnen. Es gibt heute keine Extragerichtsbarkeit, keine Schnellgerichte, keine Todesurteile. Heute urteilen bei einfachen Vergehen Truppendienstgerichte nach der Wehrdisziplinarordnung. Bei schweren Vergehen werden Staatsanwaltschaften tätig, zivile Gerichte sprechen dann das Urteil.
Wo beginnt und endet die Freiheit im Dienst 2018?
Der Begriff „Staatsbürger in Uniform“ lässt schon erahnen, dass die persönliche Freiheit eines Bundeswehrsoldaten heute viel weitgehender angelegt ist als in allen Zeiten davor und auch im Vergleich zu fast allen anderen Armeen in der Welt. Es soll also selbstverständlich sein, dass Freiheit nur so weit eingeschränkt werden darf, wie es der besondere Zweck und die Aufgaben der Soldaten notwendig machen.
Quiz zur Pressefreiheit
Angeschaut
Krieg, schlechte Versorgung und fehlende Mitbestimmung. 1918 waren die Voraussetzungen für eine Revolution gegeben. Wäre 2018 ein Matrosenaufstand 2.0 denkbar?
Zeitgeist. Was für ein Begriff. Er taucht im 18. Jahrhundert erstmals auf. Goethe arbeitete sich im Faust an ihm ab. Als Lehnwort hat er international Karriere gemacht. Ziemlich „zeitgeisty“, wie der Engländer sagt.
Der Begriff hilft, Geschehnisse in den Kontext ihrer Zeit einzuordnen. Er ist ein Werkzeug zur Beantwortung der Frage nach dem Warum. Warum konnte der Kieler Matrosenaufstand 1918 so passieren? Wenn es so etwas wie ein kollektives Denken und Fühlen von Gesellschaften gibt, manifestiert es sich im Zeitgeist.
„Wenn man einen Vulkan hat, auf den man einen Pfropfen steckt, dann geht er irgendwann mit einem Knall hoch“, sagt Knut Kollex. Der Historiker von der Universität Kiel nutzt ein bildliches Beispiel für ein Ereignis, das in der deutschen Geschichte beispiellos ist: der Kieler Matrosenaufstand.
Die Hauptursache für den damaligen Knall sieht Kollex dabei vor allem im Zensuswahlrecht, dass Arbeiter mit niedrigem Einkommen von der politischen Mitbestimmung ausschloss. Hinzu kam, dass die Wirtschaft in Folge des Krieges am Boden lag und die geschwächten Staatskräfte der Bevölkerung kaum noch etwas entgegensetzen konnten.
Auf heute übertragen würde ein solcher Aufstand aus Sicht von Kollex keinen Erfolg haben. Das liege vor allem an der Demokratie, in der verschiedenen Interessen im Gegensatz zum Kaiserreich ausgeglichen werden. So müssen die Parteien sich zu Problemen positionieren und ihnen Rechnung tragen, wenn sie wiedergewählt werden wollen. „Das ist das Kernelement der Demokratie“, sagt der Historiker. Eine Bewegung wie die dem Matrosenaufstand folgende sei daher heutzutage undenkbar. Die Revolution, sie ist ein Kind ihrer Zeit.
Aus den Trümmern der damaligen Revolution entstand die Weimarer Republik. Sie gilt als Grundstein der parlamentarischen Demokratie in Deutschland.
Doch auch ein Jahrhundert danach gibt es Probleme und gesellschaftliche Konstellationen, die Zündstoff in sich tragen. Bezahlbarer Wohnraum ist knapp. Und es gibt Bevölkerungsgruppen, die sich aufgrund ihres gesellschaftlichen Status von der politischen Teilhabe ausgeschlossen fühlen.
Davon abgesehen kam es in der Bundesrepublik immer wieder zu kleineren und größeren Protesten, wie folgende Klickstrecke zeigt.
Ob der Druck auf dem gesellschaftlichen Topf irgendwann so hoch zu werden vermag, dass es eines Tages wieder zu einem Knall kommt? Unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Unsere Demokratie muss jeden Tag neu erkämpft, fortwährend verteidigt werden. Das geht durch gesellschaftlichen Ausgleich, Gerechtigkeit, Solidarität. Eine Lektion, die die Kieler Matrosen uns gelehrt haben.