Die 68er in Schleswig-Holstein


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Gerald Grote hat ein neues Projekt. Der Gründer des Naturfilmfestivals Green Screen widmet sich den 68er-Protesten in und um Kiel. Ein Buch möchte er machen: „Ein Buch, das den Kielern zeigt, wie das damals war. Denn ich glaube, dass diese Zeit uns heute noch beeinflusst.“

Als sie in Kiel die Bahngleise blockierten Zum Jubiläum der 68er-Bewegung arbeitet Gerald Grote an einem Buch über die Proteste in Kiel

Seine Recherchen beginnt Grote im Archiv der Kieler Nachrichten. Er selbst war 13 Jahre alt, als die Proteste ihren Höhepunkt erreichten. „Bei mir ging es damals um Hausaufgaben und Sitzenbleiben.“ Wirklich aktiv miterlebt habe er die Zeit daher nicht. Woher kommt jetzt sein Interesse? „Ich will wissen, welche Stimmung, welcher Geist in der Stadt und im ganzen Land zwischen 1967 und 1970 geherrscht hat – und das kann ich nur aus der Tageszeitung erfahren. Weil nur sie die Geschehnisse der Zeit, die Haltung der Redakteure und die Reaktionen der Leser zusammenbringt“, erzählt Grote. „Das ist ja ein Gesamtwerk, in das man reinschauen kann, und das fasziniert mich.“

Gerald Grote am Mikrofilm im KN-Archiv - Foto: Ulf Dahl

Gerald Grote am Mikrofilm im KN-Archiv – Foto: Ulf Dahl

Zwischen Originalfotografien in Schwarz-Weiß und vielen, vielen Stunden am Mikrofilm will Grote die kleinen und großen Ereignisse der Zeit aufnehmen und in seinem Buch dokumentieren. „Es war eine Zeit, als aus einer Regung Aufregung wurde“, so Grote. Vietnamkrieg, der Mord an Martin Luther King, der Mord an Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi Dutschke: „Man war die Generation ,Love and Peace’ oder hatte zumindest diese Illusion, und auf einmal gab es überall nur Gewalt. Und das radikalisierte dann auch die Studenten.“

Auch in Kiel habe es Gründe für eine „regionale Revolte“ gegeben. „Wir hatten hier einen erzkonservativen Ministerpräsidenten, den man dem Nationalsozialismus sehr nah beschreiben könnte. Helmut Lemke war gewählt worden trotz der Kenntnisse über seine Vergangenheit. Wir hatten ein komplett abgesperrtes Landeshaus, das schwerer zu erreichen war als der Reichstag in Berlin. Da wurde mit Wasserwerfern jeder abgeworfen, der sich dem Gebäude näherte. Man kann sich das nicht so richtig vorstellen, wie es damals war. Ich auch nicht so genau, und deswegen beschäftige ich mich jetzt damit.“ Und dann gerät Grote ins Schwärmen: „In Kiel haben Menschen die Straßenbahnschienen blockiert, weil die Ticketpreise angehoben wurden“, erzählt er. „Und wer weiß, vielleicht kriegen wir den Geist von damals ja auch heute wieder. Dass die Menschen wieder mehr auf die Straßen gehen“, sagt Grote, nein, hofft Grote. „Ich weiß ja nicht…, aber fänd’ ich gut!“

Eines ist klar: Gerald Grote arbeitet nicht an diesem Buch, weil er ein rein historisches Interesse an dieser Epoche hat, sondern weil er eine ehrliche Begeisterung für diese Bewegung empfindet.

„Ich möchte nicht wissen, wie viele Leute gerade in diesem Moment ihr Essen fotografieren und irgendwo über Instagram oder Facebook anderen zeigen: Guck mal, ich esse gerade. Eine völlig irrelevante Information!“

– Gerald Grote

Diesen 68er-Geist, gibt es ihn auch heute noch? „Wir haben heute viele Techniken, die uns auf Trab halten“, sagt Grote. Früher habe man nicht so viel Ablenkung gehabt. „Früher musste man mehr Klimmzüge machen, um den eigenen Interessen nachzugehen – es gab nicht alles.“ Heutzutage habe man zumindest das Gefühl, es gebe alles. „Und wir sind eben abgelenkt. Ich möchte nicht wissen, wie viele Leute gerade in diesem Moment ihr Essen fotografieren und irgendwo über Instagram oder Facebook anderen zeigen: Guck mal, ich esse gerade. Eine völlig irrelevante Information! Aber das passiert heutzutage.“

Und sein Buch soll der Gegenwart nun ein alternatives Leben zeigen? „Nein, ich will nur mit den Menschen ins Gespräch kommen. Natürlich habe ich meine Meinung, die muss auch nicht jeder teilen, das wäre auch dummes Zeug. Ich will nicht zeigen: Das war besser. Das glaube ich auch nicht. Aber es war eben anders.“

Letzte Frage an Grote: Mit welchem Gefühl denkt er an diese Epoche? „Es ist eine Aufbruchstimmung gewesen, der man mit etwas Sehnsucht folgt, wenn man darüber liest. Manchmal wünscht man sich, dass es einen Teil dieser Stimmung auch heute noch gibt und die Menschen sich nicht nur ins Private zurückziehen.“ Sehnsucht also. Und doch, auch ein kleines bisschen Hoffnung.

Bilder aus einer Zeit zwischen Aufruhr und Rebellion

Der Ausbruch aus der Spießigkeit Interview mit Karl-Martin Hentschel

Die 68er-Bewegung hat sein Leben geprägt: Karl-Martin Hentschel arbeitete nach dem Abschluss als Diplom-Mathematiker zuerst als Systemprogrammierer und Datenbankmanager, bis er in die Politik wechselte. Von 2001 bis 2009 war er Vorsitzender der Grünen-Landtagsfraktion in Schleswig-Holstein. Persönlich empfinde er es als großes Glück, den gesellschaftlichen Aufbruch miterlebt zu haben, sagt der 68-Jährige im Rückblick.

Karl-Martin Hentschel, Foto: Ulf Dahl

Karl-Martin Hentschel, Foto: Ulf Dahl

Sie sind Sohn eines Generals und haben die 68er als Schüler, dann als Soldat in der Offiziersschule München erlebt. Was war das Schlüsselerlebnis, sich der Bewegung anzuschließen?
Karl-Martin Hentschel: Das war die ungeheure Spießigkeit der 50er- und 60er-Jahre. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, aber damals gab es noch den Kuppelparagrafen, der Vermieter unter Strafe stellte, wenn sie ein unverheiratetes Paar in einer Wohnung beherbergten. Als ich später in einer Wohngemeinschaft in Gettorf lebte, marschierte das ganze Dorf sonntags vorbei, um in die Fenster zu schauen, was bei uns los ist. Entscheidend waren dann zwei politische Schlüsselerlebnisse: der Prager Frühling und meine Teilnahme als Soldat an den Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg.

Wann bemerkten Sie persönlich den Umbruch?
Hentschel: Als Schüler. Zum ersten Mal wurde gefragt, was denn nun im Dritten Reich passiert war. In meiner Schulzeit endete der Geschichtszyklus immer mit der Weimarer Republik. Es traute sich kein Lehrer, das Thema zu behandeln, weil in allen führenden Positionen – in der Bundeswehr, in den Firmen oder Banken – zum Großteil noch Nazis saßen. Wir veröffentlichten 1967 in der Schülerzeitung ein Foto des ehemaligen Rektors (der Vater eines unserer Lehrer), das ihn mit dem Nazigruß vor der Schule zeigte, was dazu führte, dass die Zeitung verboten wurde. Wir organisierten daraufhin die erste große Demonstration 1967 in der Nachkriegszeit in Celle. Es wurde geradezu ein Volksfest.

Nach Ihrer Soldatenzeit kamen Sie an die Kieler Universität, um Mathematik zu studieren. Sie waren für die Roten Zellen politisch aktiv und wurden später Präsident des Studenten-Parlaments. Wie haben Sie die politischen Auseinandersetzungen in Kiel erlebt?
Hentschel: 1968 demonstrierten die Studenten noch mit Krawatte. Aber 1971 saßen viele Frauen und Männer mit langen Haaren auf der Wiese zwischen Audimax und Verwaltungshochhaus und diskutierten, verteilten Flugblätter. Wir hatten richtige Feindbilder, denn es gab keine offene Diskussion zwischen den in unseren Augen „reaktionären“ Professoren und den Studenten. Drei Mal wurde ich von der Universität angezeigt, unter anderem von Rektor Prof. Hans Hattenhauer wegen Hausfriedensbruchs, weil wir Laborräume besetzt hatten. Er holte die Polizei auf den Campus, wenn Seminare blockiert wurden. Die Situation spitzte sich zu. Ich würde sagen, es gab sogar Hass.

Was haben die 68er am meisten verändert?
Hentschel: Die größte Änderung brachten die 68er für die Frauen. Meine Mutter brauchte noch die schriftliche Einwilligung meines Vaters, um wieder als Lehrerin arbeiten zu dürfen. Die 68er-Kultur, das Lebensgefühl mit mehr Freiheiten nicht nur in der Sexualität, sondern in allen Gesellschaftsbereichen, die Musik – all das spielte vielleicht sogar eine größere Rolle als die politische Dimension. Im Grunde wurde Deutschland erst nach 68 richtig demokratisch. 68 war aber auch verbunden mit ungeheuren Konflikten in den Familien. Sobald wir Kinder auf Politik und Nazi-Zeit zu sprechen kamen, krachte es auch bei uns. Wir glaubten, dass man die Welt verändern muss, damit sich die Nazi-Geschichte nicht mehr wiederholt. Bis 1973/74 erlebten wir eine große Aufbruchstimmung.

Ist die heutige Studenten-Generation unpolitischer?
Hentschel: Nein, das erlebe ich nicht so. Ich glaube auch nicht, dass alle Studenten damals politisch waren. Der kulturelle Aufbruch, der Geist von 1968 – vieles davon, was erkämpft worden ist, ist ja geblieben. Heute ist es selbstverständlich, dass Männer und Frauen in Wohngemeinschaften leben, dass beide Elternteile arbeiten und es Kinderkrippen gibt. Manches wurde aber auch zurückgedreht, etwa, dass heutige Studenten und Studentinnen mehr Prüfungen und Klausuren ablegen müssen als wir. Ich glaube, die Universität heute ist härter.

Inwieweit motivierten Sie die 68er, als Diplom-Mathematiker in die Politik zu gehen?
Hentschel: Nach den Gewalttaten der RAF – dem deutschen Herbst 1977 – und den Demonstrationen von Hunderttausenden gegen die Atomkraftwerke, begriff ich wie viele andere, dass Proteste nicht ausreichen. Die Aufstellung einer grünen Liste zur Europawahl 1978 wirkte wie ein Zündsatz. Die in 1000 Gruppen zersprengte Apo (außerparlamentarische Opposition) strömte nun zusammen und und begann, für Gemeinderäte und Parlamente zu kandidieren.

Was war das größte Verdienst der 68er, was ihr größter Fehler?
Hentschel: Das größte Verdienst war, dass Deutschland ein demokratisches, offenes Land geworden ist, in dem man ohne Angst offen diskutieren kann. Der Fehler war, dass es im Laufe der Debatte zu politischen Verhärtungen kam, die zum deutschen Herbst mit dem RAF-Terror geführt haben. Ein kleiner Teil hatte sich radikalisiert. Persönlich empfinde ich es als großes Glück, diesen Aufbruch und solche gesellschaftlichen Veränderungen miterlebt zu haben. Es war der Beginn eines neuen Zeitalters, höchstens vergleichbar mit der Wende 1990. Das ist prägend für jeden Menschen. Das sehe ich daran, dass viele der Alt-68er sich 2015 Flüchtlingsinitiativen anschlossen, weil sie sich sagten, wir müssen etwas tun, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.

Interview: Martina Drexler

Klassenkampf im Klassenzimmer Im Oktober '68 kommt es an der Kieler Gelehrtenschule zu einem Hungerstreik - Was war passiert?

Eine Schule wie ein Pulverfass: Ende der 60er-Jahre spielten sich im Mikrokosmos der Kieler Gelehrtenschule sämtliche gesellschaftliche Umbrüche der Zeit ab. Die aufgeheizte Stimmung gipfelte im Oktober 1968 in einem Hungerstreik an dem über die Stadtgrenzen bekannten altsprachlichen Gymnasium. Was war passiert?

Die Eskalation der Konflikte zwischen Lehrern, Schülern und Schulleitung entzündete sich an einer Klassenfahrt in Italien und dem Klassenlehrer. Der habe während jener Klassenfahrt angesichts einer nachlaufenden Kinderschar gesagt: „Fußtritte sind die einzige Art, um dieses lästige Geschmeiß loszuwerden.“ Dieser Vorfall habe das Fass zum Überlaufen gebracht, erzählt Prof. Johannes Bröcker. Der ehemalige Direktor des Instituts für Regionalforschung war Schüler dieses Lehrers, er war mit in Italien und einer der Streikenden.

7. Oktober 1968 finden sich rund 30 Schüler Kieler Gelehrtenschule zu einem Hungerstreik zusammen. Foto: Der Igel - Jugendzeitschrift für Politik und Kultur

7. Oktober 1968 finden sich rund 30 Schüler Kieler Gelehrtenschule zu einem Hungerstreik zusammen. Foto: Der Igel – Jugendzeitschrift für Politik und Kultur

„Ich weiß noch, eine Mutter, Frau Weisbecker, hatte uns Kraftbrühe gebracht.“

– Johannes Bröcker

Bröcker, Jahrgang 1950, sitzt im Büro des Schulleiters der Gelehrtenschule, Rainer Schöneich, und erzählt: An einem Montag, dem 7. Oktober 1968, finden sich rund 30 Schüler zu einem Hungerstreik auf der Wiese vor der Schule zusammen. „Ich weiß noch, es regnete, und wir haben unter einer Plane übernachtet. Es kamen Menschen vorbei – manche ärgerten uns.“ Bröcker selbst hatte kurz vor dem Streik sein Abitur gemacht. „Ich ging also keine großen Risiken ein. Für andere, die daran beteiligt waren, gab es zum Teil schwere Konsequenzen.“ Einige Zeitzeugen behaupten, dies sei kein echter Hungerstreik gewesen. Es sei getrunken und geraucht worden. Hatten besorgte Mütter nicht sogar Wurstbrote gebracht? Bröcker zeigt sich befremdet von diesen Einwürfen. „Natürlich war das kein Hungerstreik, bei dem es an die Grenzen der Existenz gegangen ist. Es war eine Demonstration. Ich weiß noch, eine Mutter, Frau Weisbecker, hatte uns Kraftbrühe gebracht. Die wird den ganzen Tag in der Küche gestanden und die Knochen ausgekocht haben.“

Für Bröcker war der Hungerstreik nur die Spitze des Eisbergs. Die Kritik an dem aus Sicht der Schüler zu weichen Umgang der Schulleitung mit dem Klassenlehrer verband sich schließlich mit schulpolitischen Forderungen und einem immer aktiveren Aktionskomitee Unabhängiger Sozialistischer Schüler (AUSS). „Bei den Ungerechtigkeiten und Gemeinheiten der pädagogischen Methoden, die dort praktiziert wurden, würden mir heute noch die Lippen zittern“, erzählt Bröcker. „Ich bin mit den Verhältnissen, die zu der Zeit herrschten, in keiner Weise versöhnt.“

„Das Ausstehen dieser Konflikte hätte ich mir gerne erspart. Es war bitter und hart.“

– Johannes Bröcker

Was waren das für Verhältnisse? „Unser Biologielehrer schwärmte uns im Unterricht vor, welch tolle Disziplin damals im Zweiten Weltkrieg herrschte, als sie Kreta besetzt hatten“, erzählt Bröcker. Von einem anderen Lehrer sei eine Mitschülerin an den Beinen aus dem Klassenzimmer gezogen worden. „Wenn man sich über die militärischen Verhältnisse beschwerte, antwortete der Klassenlehrer: Betrachten Sie die Schule als eine Vorbereitung auf den Militärdienst.“

Johannes Bröcker will diese Zeit nicht als ein aufregendes Abenteuer verstanden wissen. „Das Ausstehen dieser Konflikte hätte ich mir gerne erspart. Es ist nicht so, dass ich rückblickend sage: Das war ja eine aufregende Zeit. Es war bitter und hart.“ Zu den ärgsten Konsequenzen habe der Schulverweis von Henning Langenheim und Christoph Maier gehört. „Die Domschule in Schleswig und das Flensburger Gymnasium waren liberaler und haben sie aufgenommen“, erzählt Bröcker.

„Die Zusammenballung mit Latein und Altgriechisch hat es begünstigt, dass hier diese Wagenburgmentalität entstanden ist.“

– Hartmut Kunkel

Warum eskalierte die Situation gerade an der Gelehrtenschule? „Man darf die Rolle der Altphilologen nicht unterschätzen“, erzählt der pensionierte Lehrer Hartmut Kunkel. „Altphilologen fühlten sich schnell mal gegenüber anderen Fachlehrern deutlich überlegen, einige gingen mit einem erheblichen Dünkel durch die Welt. Und diese Zusammenballung mit Latein und Altgriechisch an dieser Schule hat es begünstigt, dass hier diese Wagenburgmentalität entstanden ist.“ Bröcker ergänzt: „Die Gelehrtenschule galt als die Schule der Führungsschicht. Und die setzte sich zusammen aus hoher Marine, Landesregierung und Universität.“

Als Kunkel 1988 Lehrer an der Gelehrtenschule wurde, sei ihm sofort klar geworden, dass hier einiges aufzuarbeiten war. „Es lastete ein Tabu hier.“ Nicht nur Tabus, auch Hausverbote gegen einige ehemalige Schüler waren noch aktiv. Hausverbote, die sich unter anderem gegen Bröcker richteten. Kunkel organisierte vor genau zehn Jahren eine Podiumsveranstaltung, zu der viele dieser ehemaligen Schüler kamen. „Schön, dass Sie da sind, habe ich gesagt, und die Hausverbote aufgehoben“, erzählt Schöneich. Die Gelehrtenschule, sie sei eine andere geworden.

„Heinrich“ – das Wohnzimmer der 68er Kieler Zeitkolorit mit autobiografischen Zügen: Hermann Abts schildert mit „Filmriss ’68“ eine Ära, die seine Zeit war

Der Mann ist einfach locker. Hellgrauer Baumwollpullover statt Oberhemd, die Hose so weiß wie sein fast schulterlanges Haar, lässige Schuhe von der Art, mit der Südfranzosen morgens über den Markt schlendern. Dr. Hermann Abts aus Flintbek führte mehr als drei Jahrzehnte seine Praxis als Gynäkologe und kam als Medizinstudent nach Stationen in Münster und München nach Kiel. 1965 war das, und der Student aus dem ostfriesischen Leer merkte bald, dass sich hier oben in Kiel eine politische Szene aufbaute. In seinem autobiografisch eingefärbten Roman „Filmriss ’68“ (zu beziehen über Amazon) schildert er das farbenreich, freizügig und schonungslos.

„Wie eine muffige Stube.“

– Hermann Abts

„Heinrich der achte“, Kiels Studentenkneipe auf der Holtenauer Straße, war das Hauptquartier der sogenannten „Politischen“, sagt Hermann Abts. Nein, wehrt er ab, er zählte sich nicht dazu, hatte sich eher auf die Gegenseite geschlagen, zu den Lebenskünstlern, zu denen, die nachts malen oder als Kollektiv auf einem Bauernhof leben wollten. Die Musik war es, die für ihn als Gymnasiasten die Welt verändert hatte. Und an dieser Welt im Nachkriegsdeutschland lässt er kein gutes Haar und findet ein sprechendes Bild dafür: „Wie eine muffige Stube“, sagt Abts. Was galt? Ordnung, Zucht und Sitte, und wer keinen Diener machte, dem wurde der Kopf auf die Brust gedrückt.

Dann kamen die Beatles, sagt Abts, erst noch artig in schwarzen Anzügen, nur die Haare länger. Gerade lang genug für den Skandal. Als Mitte der Fünfziger Bill Haileys Rock n’n Roll-Film „Außer Rand und Band“ auch ins Kino nach Leer kam, hatte man eine Polizeieskorte angefordert, weil man befürchtete, die Jugendlichen würden alles kurz und klein schlagen. „Irre“, sagt Abts und kann sich ein Lachen nicht verkneifen: „Wir wollten doch einfach nur den Film sehen.“ Wir schweifen ab, vom „Heinrich“, vom Kieler Studentenleben, den langen Haaren und den Fusselbärten, der Lederkette mit der Strander Muschelschale am Hals. „Notwendige Rückblende“, meint Abts, um den Boden zu beschreiben, auf dem die 68er-Bewegung überhaupt gedeihen konnte.

Der junge blonde Ostfriese, Vater Tierarzt, Mutter Bauerntochter, hatte immerhin sein Physikum in der Tasche, als er sich mit seinen Kommilitonen in besagtem „Heinrich“ wiederfand, schräg gegenüber seiner Studentenbude mit Gemeinschaftsküche. Die Szene bunt, und Timmi, der Bierzapfer, mitten im Auge des Taifuns. Mittelgroß, eher untersetzt, eine grüne Schürze um den Bauch. An der Schnittstelle aller Gespräche, im Zentrum der Weltverbesserungspläne und am Ausgangspunkt für mehr oder weniger instabile Beziehungskisten. „Denn der Tresen“, so beschreibt es Abts in seinem Roman, „ist nicht Anhängsel oder Insel, der Tresen des Heinrich ist selbst Raum, umgeben von dunkelgrünen Wänden. Nicht auf Barhockern sitzt man, sondern auf der Bank, die das Hufeisen umgibt.“

„Filmriss ’68“ erzählt die Geschichte dieser Clique, die zur Stammbesetzung des Heinrich gehört. Simon, der etwas versponnene Held, Werner, Wocki, Herbert und Wolfgang, der Howaldtarbeiter, der irgendwann durch Zufall in die Runde geraten war. Als Sabine dazustößt, die hübsche Renogehilfin, die sich erst mit Wocki einlässt und dann zu Herbert überläuft, steuert die Geschichte zielsicher in den emotionalen Abgrund. Der tragische Showdown ist denkwürdig und endet im Gerichtssaal. Abts formuliert vollmundig, spart nicht an knallharten Sexszenen und ironisiert die politische Rhetorik der 68er, als sei sie eben verraucht.

„Wir mussten uns von den Politischen den Vorwurf gefallen lassen, wir seien reaktionäre Arschlöcher.“

– Hermann Abts

Warum er dieses Buch schreiben wollte? „Weil ich immer wieder gefragt wurde, wie das damals gewesen sei“, sagt Abts. „Und weil mich diese arrogante Herrschaftsattitüde der Politischen so angewidert hat, die versucht haben, die Lufthoheit über den Stammtisch zu bekommen.“ Die 68er, das sind für ihn die Aufgeklärten, die Toleranten, die entspannten Hippies. „Wir mussten uns von den Politischen den Vorwurf gefallen lassen, wir seien reaktionäre Arschlöcher mit unserem Medizinstudium, mit unserem Hang zu Kinofilmen und zur Kunst.“

Timmi und seine Pleite mit Jimi Hendrix und dem abgesoffenen Fehmarn-Festival, klar, die gab es wirklich. Und auch Simon Heimbuch, der Medizinstudent, der im „Heinrich“ die Nacht zum Tag macht, wäre im richtigen Leben tatsächlich fast aus der Kurve geflogen. Das Staatsexamen hat Hermann Abts dann kurzerhand verschoben. Er wollte die Zeit genießen. Hat das nie bereut und dann schließlich gut bestanden. Und die Haare? Bedingung für seine erste Anstellung als Assistenzarzt bei Prof. Kurt Semm an der Kieler Frauenklinik sei ein Frisörbesuch gewesen. Abts ging, kroch aber nicht zu Kreuze. Ließ sich einen Zentimeter abschneiden, was ihm Semms Respekt eintrug. Standing eines 68ers.

Von Maren Kruse

Bilder aus dem Leben 1968 fernab von Demonstrationen

Und heute? Protestkultur 50 Jahre später Studenten über ihre Vorgänger, das Erbe der 68er und neue Formen der Demonstration

Das Konferenzzimmer des Allgemeinen Studierenden-Ausschusses (Asta) an der Christian-Albrechts-Universität: Es stapeln sich Kartons, Plakate, Flyer. Am großen Tisch sitzen drei Asta-Mitglieder und zwei Studenten. Hier keimt der Kern studentischer Protestbewegung in Kiel, möchte man meinen. Hier werden Märsche geplant, Aktionen vorbereitet, Pläne geschmiedet. Und wenn irgendwo das Jubiläum der 68er-Studentenproteste eine Rolle spielt, dann hier. Oder? „Wir planen keine Aktion oder Veranstaltung zum Jubiläum“, sagt Julian Schüngel und schaut zu seinen Kommilitonen. „Oder?“. Die jungen Frauen und Männer schütteln den Kopf.

Mahrt und Schüngel vom AStA Kiel Foto Eisenkrätzer

Mahrt und Schüngel vom AStA Kiel Foto Eisenkrätzer

Julian Schüngel ist der Vorsitzende des Asta. „Wir haben nicht so den Bezug zu den 68ern“, sagt er. „Proteste treten auf dem Campus immer wieder auf, vor allem, wenn es um die Verbesserung von Studienbedingungen geht“, sagt Asta-Mitglied Katharina Mahrt. Etwa als Studenten 2009 die alte Mensa besetzten, um gegen den sogenannten Bologna-Prozess zu demonstrieren, der die europaweite Harmonisierung von Studiengängen vorsah.

Symbol der Aktion Uni ohne Geld Foto hfr

Symbol der Aktion Uni ohne Geld

Ein anderes Beispiel sei das Aktionsbündnis „Uni ohne Geld“ 2014: Dieser entstand als Protestformation gegen die Probleme einer unterfinanzierten Universität. Neben klassischen Demonstrationen protestierten die Studenten mit Flashmobs und Vorlesungen auf dem Kieler Weihnachtsmarkt – mit Erfolg. Das Land startete zwei Programme, die zur Sanierung der Universität und zur Erhöhung der Grundfinanzierung führten.

„Hochschulen sind keine abgeschiedenen Elfenbeintürme mehr.“

– Katharina Mahrt, AStA

Außerdem, so Mahrt, gebe es einen grundlegenden Unterschied zwischen den Studenten damals und heute: „Hochschulen spiegeln inzwischen viel mehr die Zusammensetzung der Gesellschaft wider als in den 60er-Jahren. Sie sind keine abgeschiedenen Elfenbeintürme, die Studenten keine homogene Einheit mehr.“ Studenten seien heutzutage Teil der Gesellschaft, und deswegen seien sie auch in anderen Zusammenhängen Teil unterschiedlicher Protestbündnisse. „Auf Demonstrationen treten sie nicht mehr als ’die Studenten’ auf, sondern zum Beispiel als Teil einer Naturschutzorganisation“, so Mahrt. Sie hat auch eine Idee, wogegen sich der nächste Protest richten könnte: Studienfinanzierung. „Das Bafög ist viel zu gering und überhaupt nicht ausgerichtet auf das Bachelor-/Master-System“, kritisiert sie. „Das ist der Politik schon länger bekannt, trotzdem heißt es nur: Wir schauen uns die Zahlen an. Dabei gibt es die schon seit Jahren.“

Was sie alle nicht mehr hören können, sei die ewige Leier von Älteren, die „der Jugend von heute“ Politikverdrossenheit und Trägheit vorwerfen. „Natürlich gibt es Studenten, die sich für nichts engagieren – aber die gab es auch in den 68ern“, sagt Student Florian Groth. Aber Protest um des Protests willen, nur weil die 68er-Bewegung 50-jährigen Geburtstag feiert? Dafür sehe man keinen Grund.

„Ich denke, dass die 68er-Bewegung von einigen Älteren etwas verklärt wird.“

– Lasse Petersdotter, Landtagsabgeordneter (Grüne)

Das wundert Lasse Petersdotter nicht. Der 27-jährige Landtagsabgeordnete der Grünen ist Fraktionssprecher für Hochschulpolitik und ehemaliger Asta-Vorsitzender. „Ich denke, dass die 68er-Bewegung von einigen Älteren etwas verklärt wird“, so Petersdotter. „Es war eine wahnsinnig wichtige Bewegung, mit der ich sehr sympathisiere.“ Doch viele aus der Riege der Alt-68er hätten später auch „viele Brücken hinter sich abgerissen“. „Dieselbe Generation hat später Hand in Hand mit Politik und Wirtschaft das Bachelor-/Master-System eingeführt“, so Petersdotter. Und die Proteste gegen den Bologna-Prozess, der eben jenes Bachelor-/Master-System einführte, seien um einiges größer gewesen als die Studentenbewegung in den 68ern, meint Pettersdotter. „Von daher muss man schon ehrlich und kritisch auf die Idealisierung der 68er schauen.“

Als alle für die Lübecker Medizin kämpften: Es war die größte Demonstration in Kiel seit mehr als drei Jahrzehnten: Zwischen Mai und Juli 2010 demonstrierten Tausende von Studenten und Hochschulmitarbeitern des Landes gegen Sparbeschlüsse der CDU/FDP-Koalition in Schleswig-Holstein. In Bussen kamen protestierende Studenten aus Flensburg und Lübeck in die Landeshauptstadt angereist. Der Grund: Die Landesregierung unter Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) wollte die Medizinische Fakultät der Lübecker Uni schließen. Anfang Juli kam dann die frohe Botschaft aus Berlin: Die Landesregierung erhielt die Zusage vom Bundesforschungsministerium, dem Land dauerhaft 25 Millionen Euro zusätzlich zu gewähren – genau die Summe, die durch den Abbau der teuren Medizinstudienplätze gespart werden sollte.

Foto: Stadtarchiv Kiel, KN-Archiv, Friedrich Magnussen, Ulf Dahl, Thomas Eisenkrätzer, Björn Schaller