Nächster Halt: Wrist. Alte Häuser entlang der Bahnstrecke, ein typisches Bahnhofsgebäude und Autos, die an Schranken warten – mehr kann ein Reisender aus dem Zugfenster von Wrist nicht sehen. Aber was ist jenseits von Schienen und Wartehäuschen? Imke Schröder und Günter Schellhase sind neugierig aus dem Zug gestiegen und haben die Gemeinde im Kreis Steinburg erkundet.
Der Bahnhof hat die Gemeinde bekannt gemacht Wrist liegt genau zwischen Hamburg und Kiel
Wrist – das ist ein Dreh- und Angelpunkt für Pendler aus ganz Schleswig-Holstein. 1550 Reisende steigen hier jeden Tag ein oder aus. Unter ihnen viele Wrister, die mit dem Zug zur Arbeit nach Kiel, Neumünster oder Hamburg fahren. Und Pendler aus der Umgebung. Sie gehen über den Bahnhofsvorplatz am Dönerimbiss vorbei, der seine x-te Neueröffnung mit bunten Luftballons feiert, sehen das verlassene Hotel mit Biergarten an der Hauptstraße bis sie zu den Pendlerparkplätzen für 180 Pkw kommen.
Den Bahnhof, der von der Altona-Neumünster-Kiel Eisenbahngesellschaft (AKE) gebaut wurde, gibt es seit dem 18. September 1844. 45 Jahre später wurde er an die Bahnstrecke nach Itzehoe angeschlossen – und noch heute sind die drei Gleise erhalten.
Was Wrist jenseits der Bahnhofsanlage zu bieten hat? Die Kieler Nachrichten gehen auf Spurensuche in dem Ort, der 1938 gegründet wurde und über die Jahre auf eine Fläche von 1000 Hektar gewachsen ist. Erreichbar ist Wrist mit dem Zug oder über die Bundesstraße 206, die mitten durch den Ort führt. Theoretisch könnte man sogar per Boot anreisen. Parallel zur Hauptstraße fließt die Bramau, die im vier Kilometer entfernten Kellinghusen in die Stör fließt. Oder man schwimmt einfach, so wie die Robbe, die gerade in Wrist mehrfach gesichtet wurde.
Überschwemmungen gehören zum Alltag dazu Die Bramau fließt mitten durch Wrist
Die Bramau ist eine feste Größe, rauscht friedlich dahin, bringt Wrist aber immer wieder in die Schlagzeilen: Bei viel Regen und Elbehochwasser wird die Stör abgeriegelt, so dass das Flüsschen nicht abfließen kann und regelmäßig Wiesen und Weiden überspült. Zwar schützt ein Deich vor größeren Überschwemmungen, aber Hochwasser gehört zum Alltag der 2454 Wrister.
Die älteste Einwohnerin von Wrist ist 95 Jahre. Den Nachwuchs findet man in den zwei Kindergärten; bei den „kleinen Strolchen“ wird wegen der großen Nachfrage sogar angebaut. Wrist hat eine Grundschule mit 148 Schülern, die gerade lebhaft auf dem Schulhof toben. Nicht alle stammen aus der Gemeinde. Mit Shuttlebussen werden davon etwa 50 Kinder aus den umliegenden Dörfern in den Ort gefahren. Das macht man hier so in Wrist, denn die Schülerzahl muss stimmen, um die Schule unterhalten zu können.
Bürgermeister und Milchbauer Jörg Frers führt die Gemeinde an
Bürgermeister Jörg Frers holt uns am Bahnhof ab. Wie eine Eiche steht der Mann auf dem Bahnsteig, mit Käppi auf dem Kopf und den Händen in den Jackentaschen vergraben. Nur ein anderer Mensch ist noch aus dem Zug aus Kiel ausgestiegen, ein Kopfnicken, man kennt sich. Frers ist freundlich, redet gern und hat Humor – und ist in erster Linie Milchbauer. 170 Kühe sind auf seinem Hof zu Hause, 126 Hektar und ein Hofcafé, das ab Frühjahr geöffnet hat, gehören dazu. Als sein Vorgänger im Bürgermeisteramt im Vorjahr überraschend starb, sprang Frers ein. „Ich habe gesagt, ich mach das“, erklärt er in breitem Norddeutsch. Und dann hat der CDU-Mann das gemacht.
Stolz ist er auf die Dorfkirche im Wrister Ortsteil Stellau, die nur ein Wiese von seinem Hof entfernt steht und auf eine lange Geschichte zurückblicken kann. Der Weg dorthin führt aus dem Wrister Zentrum hinaus über eine schmale Straße immer in Sichtweite der Bramau. Der Spaziergängerin nickt Frers freundlich zu, sie grüßt zurück, als er langsam weiterfährt. 1203 wurde Stellau erstmals urkundlich erwähnt, die Kirche etwa 1230 erbaut. Sie war ein Geschenk des Bistums Bordesholm.
Die damaligen Kirchenfürsten war so spendabel, weil die Wrister ihnen wacker im Krieg gegen die Schweden geholfen und die Feinde bei einer Schlacht an einer Brücke über die Bramau zurückgetrieben haben. Dabei floss den Überlieferungen nach so viel Blut, dass sich das Wasser rot färbte und die Brücke seitdem Rote Brücke genannt wird. „Die sind wohl sogar mit Mistgabeln auf die Angreifer losgegangen, da kannten die nichts“, erzählt Bürgermeister Frers ein bisschen stolz über die Altvorderen.
Die Hähne der Pastorin Gritta Koetzold krähen, leise knistert der Schnee auf den Friedhofswegen. Das alte Pastorat mit Reetdach ist mittlerweile zur Festscheune umgebaut, in der auch getraut wird. Das neuere Pastorat wird von der Stellauer Pastorin bewohnt. Idyllischer geht es kaum. „Zu Weihnachten haben wir hier jedes Jahr vier Andachten, da platzt die Kirche aus allen Nähten“, erzählt Frers, während er gemütlich über den Platz geht.
Die Wrister halten zusammen und sind in vielen Vereinen aktiv. Das freue ihn sehr, sagt der Verwaltungschef. Dazu zählen der Turnverein TV Gut Heil Wrist von 1906 mit Halle und vielen Sparten, der Tennisclub mit vier Plätzen, die gerade im Winterschlaf liegen, und der Schützenverein Kyffhäuser. Die Freiwillige Feuerwehr hat drei Fahrzeuge und rekrutiert die Mitglieder aus der Jugendwehr.
Eine Dynastie seit 150 Jahren Im Edeka-Markt von Marita, Sebastian und Peter Meyer trifft sich Wrist
Wie stark die Gemeinde untereinander vernetzt ist, sieht man am besten bei Edeka Meyer im Zentrum. Seit 150 Jahren ist Familie im Ort im Einzelhandel tätig. Mit einem Tante-Emma-Laden begannen die Vorfahren, jetzt bieten sie Lebensmittel in ihrem 900 Quadratmeter großen Supermarkt an: Die Meyers gehören zu Wrist wie das ständige Rauschen der Züge. Noch täglich ist der 69-jährige Senior-Chef im Laden. Er gegrüßt die Kunden, ordnet Obst und Gemüse. Hauptsächlich arbeitet er aber seinen Sohn Sebastian ein. Die fünfte Generation an Meyers steht somit in den Startlöchern. Jetzt geht es hier gerade wie im Taubenschlag zu. Die Wrister kommen auch, weil die Meyer mittags immer eine Mahlzeit anbieten in einer gemütlichen Ecke im Laden.
„Ich wollte eigentlich mal in der Bundesliga Fußball spielen, hat aber nicht geklappt. Das mit dem Einzelhandel ist gentechnisch vorbestimmt für uns“, sagt Senior-Chef Peter Meyer, ein lustiger Mann, der freundlich und offen auf seine Kunden zu geht. Im Minutentakt grüßt er Leute, schüttelt Hände und hört sich kurz die Neuigkeiten an. „Ich hab‘ hier mit Menschen zu tun, die sagen zu mir Peter und gut ist.“ Den Rücken stärkt ihm Ehefrau Marita, mit der er seit 32 Jahren verheiratet ist. „Das ist unsere Pfund, dass wir gemeinsam hier an der Front sind.“ Das bedeutet aber auch, mit Einbrüchen zu leben. „Einmal im Jahr kommen sie und klauen Zigaretten, da warten wir gerade drauf“, sagt Meyer – für ihn gehören auch solche Vorfälle zum Leben, das er liebt hier in Wrist. „Mit dem Alter lernt man, alles nicht mehr so bierernst zu nehmen.“ Ansonsten hält sich die Kriminalität in Wrist in Grenzen.
Bundesweit in die Schlagzeilen geriet Wrist zuletzt im September 2016. Ein aggressiver Mann war am Bahnhof unvermittelt mit einem Messer auf Polizisten losgegangen. Die Beamten schossen zurück und verletzten den Störenfried dabei, der schließlich überwältigt werden konnte. Reisende hatten die Polizisten gerufen, weil der Mann auf einem der Gleise mit Steinen geworfen haben sollte. Die Bundespolizei stoppte daraufhin vorsorglich den Zugverkehr.
So was sorgt natürlich für Gesprächsstoff im Ort. Wer mit wem und überhaupt – das erfährt man bei Friseur Poser im Stettiner Weg. Die Föhne dröhnen, die Scheren klappern. Ursula Konopka (66) und Elke Röpcke (81) müssen noch warten. Friseurin Kimberly Jürs begann als 14-Jährige im Salon, viele kennen sie schon als kleines Kind. Sie kümmert sich um die Haarfarbe von Eva Ehlers. Die 71-Jährige lebt seit 13 Jahren im Nachbarort Kellinghusen. „Aber seinen Friseur verlässt man nicht. Und wenn man hierher kommt, braucht man keine Zeitung mehr.“ Elke Röpcke nickt zustimmend. Seit 1959 ist sie Kundin bei Poser, alle Vierteljahr lässt sie sich Wellen legen.
Neben dem Hochwasser gab es in letzter Zeit vor allem ein Thema: „Wir haben darüber gesprochen, dass der Gasthof geschlossen hat. Da waren wir früher immer zum Tanzen im Saal“, sagt Tanja Giehoff etwas wehmütig, die seit 30 Jahren den Wrister Damen und Herren die Haare in Form bringt. Der Friseur ist die Nachrichtenbörse.
Eine Frau betritt den Laden: „Hast Du gehört, am Bahnhof wurde in ein Haus eingebrochen.“ Betretenes Schweigen. Giehoff überbrückt die Stille: „Schön ist es hier, wir haben viele Stammkunden, darunter sind auch junge Familien, die hierher ziehen, weil Wrist so verkehrsgünstig für Bahnfahrer liegt.“
Das letzte Gasthaus mit Cafe ist seit einem Jahr geschlossen Bei Sieverts wurde geschwoft
Den letzten Gasthof – das Café Sievert mit Fremdenzimmern, Saal und Kegelbahn – haben die Betreiber 2016 dicht gemacht. Sie waren beide über 70 Jahre alt, langsam wurde alles zu mühsam. Nun sieht das Gebäude nicht mehr einladend aus. Auch die Fassade des Fischladens, der nur sporadisch seine Türen aufsperrt, könnte einen Anstrich vertragen. Es gibt dann noch ein Gasthaus, das nur auf Zuruf öffnet. Immerhin hat der Dönerladen am Bahnhof offen. Und im Sommer gibt es frischen Kuchen im Café des Bürgermeisters.
Frers ist ein positiv denkender Mensch. Wrist wächst, die Gemeinde ist kinderlieb – sechs Spielplätze gibt es bereits – gespielt wird an diesem Wintermorgen hier nicht, denn die Kinder sind im Hort oder in der Schule. Was sich Frers wünscht? „Vielleicht findet sich irgendwann ein Neuwrister, der wieder ein Gaststätte ins Leben ruft – das hoffe ich.“ Die Infrastruktur jedenfalls bietet Perspektive für eine weitere Ansiedlung.
Die ersten „Neubaugebiete“ wurden in den 80er Jahren erschlossen. Viele Häuser sind geklinkert, die Vorgärten aufgeräumt. Auf dem Auffahrten stehen Mittelklasselimousinen. Fast alle Grundstücke sind bereits oder werden demnächst als das Glasfasernetz angeschlossen. Aufgrund der starken Nachfrage nach Bauland weist die Gemeinde derzeit ein neues Areal mit 34 Grundstücken am Ortsrand aus. Die Straßen dorthin sind sauber, kaum holprig und ausreichend breit. „Auch viele Wrister Familien suchen für ihre Kinder nach Grundstücken“, sagt der Bürgermeister: „Wrister bleiben gerne hier.“
Es mangelt ja auch an wenig: Eine Arztpraxis mit zwei Medizinern sorgt für eine Grundversorgung. Wer Fachärzte aufsuchen muss, fährt mit der Bahn in Richtung Neumünster, dem Oberzentrum, das nach einem Halt in Brokstedt in etwa 15 Minuten erreicht wird. Auch zum Shoppen orientieren sich viele Wrister Richtung Neumünster. Kulturangebote wie Oper oder Theater werden dagegen eher in Hamburg wahrgenommen.
Der Ort liegt eben so verkehrsgünstig, dass sich gleich zwei Zirkusse in der Gemeinde niedergelassen und dort ihr Lager aufgeschlagen haben. Frers fährt gemächlich durch seine Gemeinde an diesem tristen Wintertag – aber gut gelaunt: Es gibt 191 Gewerbebetriebe im Dorf, der größte ist der Pflegebetrieb Kurcke mit etwa 25 Mitarbeitern, die 30 Pflegeplätze betreuen“, erzählt er. Ein Landmaschinenhandel hat 15 Angestellte, alle anderen Betriebe sind kleiner.
Entlang der kurvigen Hauptstraße haben Fahrschule, Volksbank, Tankstelle und Futtermittelbetrieb, sogar ein Elektrofachgeschäft ihre Geschäftsräume – mit einer Mittagspause von 12 bis 14 Uhr. Selbst der Edeka im Ort hat nicht länger als 19 Uhr offen. „Das ist nur gerecht für die Mitarbeiter“, findet Marktleiter Meyer. Und was passiert, wenn auf einem Fest in Wrist um 22 Uhr das Bier alle ist: „Dann werden wir angerufen und bringen Nachschub vorbei. Das macht man hier so.“
In Wrist ist die Welt noch in Ordnung. Das erkennen immer mehr Menschen. Sie siedeln sich hier an, weil sie wissen, dass ihre Heimat absolut verkehrsgünstig mit Bahn genau 30 Minuten zwischen Hamburg und Kiel liegt. Und sie wissen, dass sie angekommen sind, wenn sie hören: Nächster Halt: Wrist.