„Nützt ja nix“ Von der Würde zu altern

Kieler Nachrichten

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Sieglinde Sperling zieht genussvoll an ihrer Zigarette. „Immer wenn die beiden hier sind, rauchen wir zusammen eine Zigarette. Alleine mache ich das nicht“, erzählt sie. „Na, ohne Hilfe bekommst du ja auch nicht das Feuerzeug an“, sagt Rolf Siegmeier. „Pass bloß auf, Du!“, droht Sperling. Ernst meint sie ihre Drohung nicht.

„Das ist mein Hauptfreund“, stellt sie Rolf Siegmeier vor. Er grinst. Ein bisschen stolz. Sieglinde Siegmeier schaut auf ihre Hände. „Aber es stimmt. Ich kann es wirklich nicht alleine“, sagt sie, begutachtet jeden Finger einzeln und sagt dann: „Ich bin die Frau der krummen Finger.“ Sie finde diesen Umstand zwar lästig, aber sie akzeptiert ihn. „Ich nehm‘ an, dass es Rheuma ist.“ „Es ist Osteoporose“, sagt Marina Siegmeier. „Nützt ja nix“, sagt Frau Sperling und zuckt mit den Achseln. Ob man es nun Rheuma nennt oder Osteoporose, an ihren krummen Fingern ändert das nichts.

"Ich bin die Frau der krummen Finger."

Die Geschichte der Familie Sperling/Siegmeier ist etwas außergewöhnlich.

Jede Woche bekommt Sieglinde Sperling Besuch von Marina und Rolf Siegmeier. Marina Siegmeier ist Sperlings Ex-Schwiegertochter – sie war mit Sperlings Sohn verheiratet. Mit Rolf Siegmeier ist Sieglinde Sperling weder verwandt noch verschwägert. Schließlich ist er der Ehemann ihrer ehemaligen Schwiegertochter. Ihn nennt sie ihren „Hauptfreund“.

Es ist ein sonniger Tag im Kieler September. Marina und Rolf Siegmeier besuchen heute wieder Sieglinde Sperling in ihrer Wohnung.

Zu Gast bei Frau Sperling fühlt man sich in eine Wohnung der 1970-er Jahre versetzt. Auf dem Tisch liegt eine creme-farbene Tischdecke, darauf eine Plastik-Orchidee in Purpur. Ein Café-Service aus blauem Porzellan mit Goldverzierung. Ein Aschenbecher aus der selben Serie, daneben Zigaretten, Feuerzeug, Kondensmilch.

Sperling wohnt in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Von ihrem Sofatisch ist es ein kleiner Schritt bis zu ihrem Bett. Diesen einen kleinen Schritt kann Frau Sperling selbstständig aber nicht machen. Sieglinde Sperling ist 90 Jahre alt, sitzt im Rollstuhl und ist pflegebedürftig. Ihre Wohnung befindet sich in der  Vaasastraße 2a. Diese Adresse teilt sie sich mit 242 weiteren Menschen. Sie ist Bewohnerin des „AWO-Servicehauses Mettenhof“.

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Foto: Ulf Dahl

Marina Siegmeier kümmert sich um alles, was „Siggi“ betrifft. Sie weiß, dass es sich ungewöhnlich anhört, dass sie sich um ihre ehemalige Schwiegermutter kümmert. Ungewöhnlich anfühlen tut es sich aber nicht. „Sie ist die Oma meines Sohnes. Für mich ist es selbstverständlich, dass ich mich um sie kümmere“, sagt sie, „ich könnte sie gar nicht allein lassen.“ Sie weiß, welche Pfleger ihre Ex-Schwiegermutter besonders mag. Sie beendet die Sätze der 90-Jährigen, wenn ihr die Erinnerungen entfallen, sie den Faden verliert. Sie hat sich auch um die Wohnung im AWO-Haus und den Umzug gekümmert. „Ich hatte sie auf die Warteliste für eine Wohnung hier gesetzt, aber lange Zeit wollte sie nicht. ‚Nein, ich komme sehr wohl alleine zurecht‘, hat sie immer gesagt.“ So soll es sein, dachte Marina Siegmeier, wir verschieben so lange den Einzugstermin, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist.

Der Zeitpunkt kam. Im Jahr 2014 wurde klar, dass Sperling nicht mehr alleine in ihrem Haus zurecht kommen würde. Sie war zu schwach geworden. Körperlich und geistig. Sie konnte keine Treppen mehr laufen, es fiel ihr immer schwerer, sich selbstständig anzuziehen oder sich Essen zuzubereiten. Auf die Frage, wie es ihr nun gehe, antwortet Sperling: „Gut. Ich bin gesund. Ich bin nicht mehr so fit wie früher, aber ich bin stolz auf meine Falten.“ Während sie das sagt, grinst sie breit. „Ich kann auch nicht mehr so gut laufen, aber ein bisschen stehen – und am besten kann ich schnacken.“

Fühlt sie sich zuhause im AWO-Servicehaus? „Ja, doch“, antwortet sie, „aber ich bin ja kaum hier.“ Wo denn? „Na, die meiste Zeit bin ich im Treff.“ Der Treff ist die Tagespflege der Arbeiterwohlfahrt. Sieglinde Sperlings Tag beginnt damit, morgens geweckt zu werden. „Und dann muss ich aufstehen, und das will ich gar nicht“, sagt sie mit trotzigem Unterton. Sie wird gewaschen und zum Treff, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet, gefahren. Dort frühstückt sie, isst zu Mittag und zu Abend. „Da gibt es Kaffee und Kuchen, Bingo oder Singen, das geht schon in Ordnung“, sagt sie. Hat sie dort auch Freunde kennengelernt? „Sind alle nett da. Aber man muss ja auch nicht alles machen. Ich nehm‘ ja nicht jeden.“ Für ein wenig Schnack ist sie gern zu haben, aber man braucht sich ja nicht einbilden, schnell zu ihrem engeren Freundeskreis zu gehören.

Es ist schwierig, Sperlings „Hauptfreund“ zu werden, so wie der Mann ihrer Ex-Schwiegertochter es geschafft hat. Die beiden haben einen interessanten Umgang miteinander. Sie piesacken sich gegenseitig – das letzte Wort hat dabei aber meistens Frau Sperling.

Sperling weiß durchaus, dass sie mit Aussagen wie „Ich nehme ja nicht jeden“ Menschen zum Lachen bringt. Das scheint ihr auch eine gewisse Freude zu bereiten. Aber grundsätzlich meint sie das, was sie sagt, völlig ernst. Ja, die Leute im Treff seien nett, und ja, sie fühle sich hier in ihrer neuen Wohnung auch wohl, doch stets schwingt bei ihr der Nebensatz mit: „Aber man muss ja jetzt auch nicht übertreiben.“

Nicht gezwungenermaßen, sehr wohl aber wegen fehlender anderer Alternativen hält sie sich im Treff auf. Für sie ist das kein Grund so zu tun, als sei das die beste Zeit ihres Lebens. Zu dieser Etappe sagt sie bemerkenswert abgeklärt: „Es ist schon in Ordnung so. Nützt ja nichts.“ Aber auch: „Man muss auch wollen.“

Sperling weiß, dass die Zufriedenheit von der eigenen Einstellung abhängt. Sie ist gebürtige Rostockerin. Nach ihrer Heirat flohen ihr Mann Helmut – der Kieler war – und sie in die Bundesrepublik nach Kiel. „Wir sind mit nichts rübergekommen. Natürlich war das schwierig, es war Republikflucht.“ Helmut ist im Jahr 2000 gestorben. Viel dazu sagen möchte Sieglinde Sperling nicht. „Nützt ja nix“, sagt sie bloß. Und dass er ihre große Liebe war und sie ihn jeden Tag vermisst. Den Rest behält sie für sich.

Ein falsches Bild darf indes nicht entstehen. Natürlich ist Sieglinde Sperling ein wenig „tüddelig“. Ihr Langzeitgedächtnis leidet und dadurch gerät sie in Gesprächen oft ins Stocken. Sie vergisst Daten, Namen, Orte. Wann waren sie von Rostock nach Kiel geflohen? In welchem Jahr kam ihr Sohn auf die Welt? In welcher Straße hat sie gewohnt, bevor sie ins Servicehaus gezogen ist? Gleichzeitig ist sie absolut scharfsinnig. Ihr Verständnis für Ironie und ihr Zugang zu Sarkasmus sind erstaunlich. Es ist ein Leichtes für sie, ihr Gegenüber rhetorisch zu übertrumpfen.

Auf das AWO-Servicehaus kam Marina Siegmeier durch ihre Großmutter. Sie war die erste, die in das AWO-Haus einzog (im Frühjahr 1982) und bis 2000 dort wohnte. „Nach den guten Erfahrungen, die wir mit meiner Großmutter hier gemacht haben, dachte ich, dass das auch die richtige Entscheidung für Siggi ist.“ Siggi wohnt hier nun seit dem 3. April 2014. Im nächsten Monat zieht Siegmeiers Mutter in die Einrichtung ein. „Sie hatte vor kurzem eine Rücken-Operation und sagte nach ihrem Reha-Aufenthalt zu mir: ‚Wenn jetzt eine Wohnung frei wird, würde ich einziehen‘.“  Auch sie stand auf der Warteliste, auch sie bekam eine Wohnung. „In der zweiten Etage mit Balkon“, erzählt Marina Siegmeier. Sieglinde Sperling und Siegmeiers Mutter werden nun Nachbarn sein. Und das bindende Glied dieser Familienverstrickungen? Marina Siegmeier? „Rolf und ich haben uns auch schon auf die Warteliste für eine Zwei-Zimmer-Wohnung setzen lassen.“ Ernsthaft? „Ernsthaft.“ „Es gefällt uns hier. Deswegen wussten wir, lieber Vor- als Nachsicht.“

Ist das die moderne Form des Mehrgenerationen-Haushaltes? Eltern, Kinder und Großmütter leben nicht mehr zusammen in einem Haus, in denen die Pflege eine innerfamiliäre Angelegenheit ist, sondern kommen am Ende, jeder in seiner Wohnung, in einer Art Wohngemeinschaft karitativer Einrichtungen zusammen? Die Pflege kommt von Angestellten, das Wohnzimmer ist der AWO-Treff?

„Das ist schon eine außergewöhnliche Situation“, sagt André Springer. Er ist der stellvertretende Einrichtungsleiter im AWO-Servicehaus Mettenhof. „Mit dieser Konstellation bilden die Familien Siegmeier und Sperling schon eine Ausnahme. Im Regelfall leben hier ältere Menschen alleine in ihren Wohnungen, ohne Familienmitglieder in der Nachbarschaft. Die einen bekommen viel Besuch, die anderen wenig.“

Auch Sieglinde Sperling sieht ihre zukünftigen Nachmittage im Treff nicht gemeinsam mit ihrem Hauptfreund, Marina Siegmeier und deren Mutter.“Viel älter will ich nicht mehr werden.“ So wie sie das sagt, hat das nichts mit Lebensmüdigkeit zu tun, sondern mit Pragmatismus. So fatalistisch es klingen mag: Viel besser wird es ihr mit der Zeit wohl nicht mehr gehen. Dessen ist sie sich bewusst. Da gibt es nichts schön zu reden. Oder einfacher gesagt: „Nützt ja nix.“

Der Demographische Wandel

Wer sich beruflich mit dem Thema Alter und Pflege beschäftigt, spricht immer die selbe Warnung aus: Man muss sich mit dem eigenen Altern beschäftigen, solange man es noch kann. Was Marina und Rolf Siegmeier getan haben, ist ungewöhnlich aber nicht unvernünftig – im Gegenteil. Die Wartezeiten für solche Wohnungen in Einrichtungen wie die der Arbeiterwohlfahrt werden eher länger als kürzer. Den Grund dafür benennen kann erst mal jeder: Die deutsche Gesellschaft altert.

Dieser Kernsatz, der immer an vorderster Position steht, wenn es um den Demographischen Wandel geht, hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen, die einander bedingen und beeinflussen. Maßgeblich ist vor allem das Verhältnis von Geburten- und Sterberaten. Erweitert man dieses Zusammenspiel um die Variable „Lebenserwartung“ landet man bei einem der medial und gesellschaftlich am häufigsten diskutierten Themen der Gegenwart. Hinter dem manchmal als staubtrocken verschrienen Thema „Demographischer Wandel“ stecken Zusammenhänge und Auswirkungen, die nicht nur viele, sondern so ziemlich alle Bürger auf ziemlich reelle Art und Weise betreffen.

Das liegt vor allem daran, dass der „Demographische Wandel“ so viele existenzielle Lebensbereiche tangiert, bestimmt, in die eine oder andere Richtung beeinflusst. Ein Blick darauf, welche Merkmale unter dem Begriff „Demographischer Wandel“ zusammengefasst werden, verdeutlicht, was für ein – um es mit Theodor Fontanes Worten zu sagen – weites Feld hier abgedeckt wird. Ganz allgemein geht es um die Bevölkerungsentwicklung. Etwas konkreter: Veränderungen der Altersstruktur der Bevölkerung, des quantitativen Verhältnisses von Männern und Frauen, der Anteile von Inländern, Ausländern und Eingebürgerten an der Bevölkerung, der Geburten- und Sterbefallentwicklung, der Zuzüge und Fortzüge. Noch konkreter wird es bei den Auswirkungen: auf das Rentenversicherungssystem, auf das Bildungssystem (gekennzeichnet durch die Zusammenschließung von Schulen), auf das Gesundheitswesen und insbesondere die Altenpflege – nur um einige zu nennen.

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